zähl die heitren Stunden nur!
Das ist ein Spruch, der in so manchem Poesie-Album stehen mag. Und auf den ersten Blick ist er ja auch sehr schön, schön positiv, mit einer positiv anmutenden Aussage.
Doch blicken wir mal hinter die Kulissen. Denken wir weiter. Wenn ich nur das Heitere, das Sonnige, das Gute in meinem Leben zähle, vergesse ich das Traurige, das Dunkle, das Schlechte.
Genau die eher negativ behafteten Erfahrungen und die Tatsache, dass ich sie überstanden habe, machen doch aber aus mir die, die ich geworden bin. Ohne Misserfolge hätte ich nie gelernt, wieder aufzustehen, nachdem ich hingefallen bin. Ohne Verluste hätte ich nicht gelernt, das zu schätzen, was ich besitze. Ohne Traurigkeit wüsste ich die Freude gar nicht zu würdigen.
Ist es nicht doch besser, auch die dunklen Seiten des Lebens zu zählen? Ich habe es schon einmal hier geschrieben: Mein Vater hat eines Tages gesagt: „Mein Leben ist wie ein großer Bruchstrich. Oben stehen die guten Dinge, unter dem Bruchstrich die schlechten, und wenn ich alles zusammenzähle, kommt eine große EINS heraus.“
Wenn ich in diesem Falle die schlechten Dinge weglassen würde und wollte mit dem Bruch weiterarbeiten, käme als Antwort „nicht lösbar“, denn unter dem Bruchstrich stünde eine Null. Durch Null zu teilen ist aber unmöglich. Das würde für mein Leben bedeuten: Es ist nicht lösbar, es ist nicht lebbar, es ist nicht er-lebbar.
Und das wäre ein Horror-Szenario. Das wäre lebensunwertes Leben.
Also vergesse ich die Sonnenuhr und zähle weiterhin alles, was in meinem Leben geschieht und was dazu gehört – denn sonst wäre es nicht mein Leben.