Rahel – geliebt und doch unglücklich
Zur Ausarbeitung dieser Andacht nutzte ich die Zeitschrift „für heute“.
Heute morgen haben wir von Lea und ihrer unerfüllten Liebe gehört. Doch wer von Lea spricht, kann Rahel nicht vergessen oder beiseite schieben. Deshalb komme ich jetzt zu ihrer Schwester – geliebt, beneidet, vielleicht auch ein bisschen gehasst durch Lea.
Liebe auf den ersten Blick – wer wünscht sich das nicht. Endlich der oder dem Einen begegnen, und es fährt wie ein Blick durch den Magen und ich weiß: Das ist es. Man kann die Augen nicht voneinander lassen, man möchte immer zusammen sein, man fühlt sich unvollständig, sobald der andere nicht mehr auf Tuchfühlung ist.
Dieses Phänomen kennen auch die Menschen der Bibel. Denken wir nur an das Hohelied, das so ein Liebesverhältnis zwischen zwei jungen Menschen beschreibt. Ganz schön freizügig übrigens, wenn man die Bilder richtig deutet. Und genau so etwas ist Rahel passiert. Sie trifft auf Jakob und die beiden verlieben sich Hals über Kopf.
Die Liebe, die hier erblüht, stört jedoch die Ordnung. Laban, der Schwiegervater in spe, will ja erst seine ältere, nicht so liebreizende Tochter Lea verheiraten. Und da wäre der Neffe, der Aussicht auf ein reiches Erbe hat, genau der Richtige. Wir kennen die Geschichte, wir haben sie heute früh gehört. Jakob bekommt erst Lea und dann noch Rahel dazu.
Zustände sind das! Vielleicht fällt es uns schwer, uns an die Stelle Rahels zu versetzen, die das alles über sich ergehen lassen muss.
Sicher ist ihr klar, dass die Sitten und Gebräuche auf Leas Seite sind – aber was macht sie mit ihren Gefühlen? Auf der einen Seite Jakobs Liebe zu ihr, auf der anderen Seite die Loyalität gegenüber ihrer Schwester und der Gehorsam dem Vater gegenüber.
Auch Rahel wurde nicht gefragt, was sie will. Im Gegensatz zu früher Rebekka, die doch wenigstens ein Statement abgeben durfte, als der Bote Abrahams kam, um sie als Braut für Isaak zu werben.
Liebe, die sich an keine gesellschaftlichen Normen hält, sondern einfach dazwischenfunkt – das kennen wir bis heute. Und wer das einmal erlebt hat, weiß, wie stark dieses Gefühl ist und wie wenig man dagegen tun kann. Es läuft in jedem Fall auf Leiden hinaus: Entweder wir leiden an dem Verzicht oder daran, dass wir in andere Ordnungen eingebrochen sind und andere Menschen verletzt haben.
Was hat sich Gott eigentlich dabei gedacht, den Hormonen eine solche Macht über unser Verhalten zu geben? Wie entscheidet man sich richtig? Und wie bewertet man die Folgen?
Für Rahel tut sich ein Mittelweg auf. Sie bekommt ihren Geliebten, sie kann sich seiner Liebe auch sicher sein – aber sie muss ihn mit ihrer Schwester teilen. Und zusehen, wie diese Schwester ein Kind nach dem andern zur Welt bringt, während sie kinderlos bleibt.
Dabei ist doch gerade für zwei Menschen, die sich derartig verliebt haben wie sie und Jakob, ein Kind die einzig richtig scheinende Erfüllung.
„Gib mir Kinder! Wenn nicht, so sterbe ich!“ spricht Rahel zu Jakob. Schreit sie? Flüstert sie es ihm ins Ohr? Spricht sie unter Tränen? Sind Zeugen bei diesem Gespräch dabei? Die Bibel ist berühmt für ihre knappe Ausdrucksweise, die der Ausdeutung weiten Raum lässt.
Jakob jedenfalls antwortet auf Rahels Ruf der Verzweiflung mit großem Zorn. Die Unfruchtbarkeit ist schließlich nicht seine Schuld! „Bin ich denn an Gottes statt, der dir den Kindersegen versagt hat?“ So lautet seine grobe Antwort.
Gerade wegen der Beziehung zur Entstehung des Lebens wird in den Urzeiten die Unfruchtbarkeit als die furchtbarste Katastrophe, die eine Frau nur treffen kann, angesehen. „Gott hat meine Schmach hinweggenommen“, sagt dieselbe Rahel nach der Geburt des Josef.
Zunächst sieht es jedoch so aus, als habe Gott die Kinderlose vergessen, und so wird die erflehte Schwangerschaft mit dem biblischen Ausdruck „Nun gedachte Gott Rahels. Gott erhörte sie“ angekündigt. Bereits in der Geschichte von Isaak und Rebekka heißt es „Der Herr erhörte Isaaks Gebet und Rebekka wurde schwanger.“ Auch hier wieder: Die Geschichte wiederholt sich.
Rahel jedenfalls greift erst einmal zur Leihmutterschaft und schickt ihre Sklavin zu ihrem Mann. Noch ein schmerzhaftes Erlebnis für ihre Gefühle.
Wieder stelle ich fest: Die Geschichte wiederholt sich. Sara hat ihr Magd Hagar als Leihmutter benutzt, um nicht zu sagen missbraucht. Sie konnte nicht warten. Rebekka musste zwanzig Jahre warten, bis ihr größter Wunsch, Mutter zu werden, sich erfüllte. Selbst Lea, die doch schon einige Kinder geboren hatte, wurde ungeduldig und gab ihre Magd Silpa Jakob zur Frau. Und nun Rahel.
Wie viele Frauen kämpfen heute mit dem Problem der Unfruchtbarkeit und hätten so gern ein Kind? Versuchen es mit künstlicher Befruchtung und Leihmutterschaft. Und wenn das Kind dann endlich da ist, wird es vergöttert und verzogen. Wie Josef, der Sohn, den Rahel dann schließlich doch noch bekommt.
Aber es reicht nicht. Sie will noch ein Kind – und bekommt Benjamin. Aber inzwischen ist sie mit ihrem Mann auf einer Reise, musste die Heimat verlassen, alles ist beschwerlich.
Die Mutterschaft, die so sehr herbeigesehnt wird, wird nicht idealisiert, sondern realistisch als eine Sache auf Tod und Leben wahrgenommen. Schließlich teilt Rahel das Schicksal von Millionen Frauen in der vorindustrialisierten Welt und der Mehrheit der Armen, die heute ohne Gesundheitsversorgung leben müssen. Sie stirbt bei der qualvollen Geburt ihres zweiten Kindes und wird am Wegesrand begraben. Für sie ist diese dramatische Liebesgeschichte damit zu Ende, für ihren Mann Jakob endet diese Liebe nie.
Die Geschichte der beiden Frauen Jakos dramatisiert eine Grundgegebenheit der damaligen Welt und zeigt die Konflikte und Schmerzen auf, die in ihr für die Frauen angelegt sind. Auch Lea, die ältere Tochter Labans, wird Opfer des Betrugs, mit dem Jakob betrogen wurde. Sie, die Ungeliebte, versucht durch ihre Söhne den Mann an sich zu binden. Die Beziehung der beiden Schwestern zueinander bleibt von Eifersucht und Lebensneid geprägt.
Rahel hatte Jakobs Liebe, wünschte sich aber Kinder. Lea hatte Kinder, wünschte sich aber Jakobs Liebe. Jede wünschte sich das, was die andere hatte, und keine von beiden war glücklich. Beide liebten Jakob und wünschten sich Kinder von ihm. Jede war eifersüchtig auf die andere. In dieser Familie sah es wirklich sehr traurig aus.
Wie es Lea gefühlsmäßig nach Rahels Tod ging, erfahren wir nicht. Eine Versöhnung der beiden Schwestern findet nicht statt. Waren sie dazu weniger bereit als die tödlich verfeindeten Brüder Jakob und Esau?
Die Geschichte der beiden Schwestern wirkt tragisch. Und sie zeigt, dass es auf dieser großen Palette menschlicher Beziehungen viele Mischungsverhältnisse gibt, die wir nicht mit unseren Regeln und Gesetzen steuern können.
Das menschliche Miteinander ist nicht einfach. Es wird immer eine Frage von Kompromissen bleiben, und wie sehr wir auch versuchen, niemanden zu verletzen – irgendwer wird es immer sein.
Es müssen Entscheidungen getroffen werden, deren Folgen in diesem Moment nicht abzusehen sind und die immer irgendwelche Menschen, die davon betroffen sind, nicht verstehen werden. Gerade in solchen Phasen ist es wichtig, mit Gott im Gespräch zu sein. Wenn wir ihm vertrauen, wird er mit uns den barmherzigsten Weg suchen – für uns und für die anderen.
Wir singen Lied 379 aus dem EmK- Gesangbuch „Weiß ich den Weg auch nicht“
Wir beten:
Danke, Vater, dass wir lernen können. Lernen aus der Geschichte und von den Fehlern, die die Menschen vor uns begangen haben. Gib uns, dass wir sie nicht verurteilen, sondern schenke uns Verständnis für Fehler und Schwächen, denn auch wir sind nicht fehlerlos. Bleibe bei uns, auch und gerade wenn wir immer wieder Fehler begehen und unseren eigenen Weg gehen wollen, ohne nach dir zu fragen. Danke, dass wir immer wieder zu dir kommen dürfen. Amen.
Zum Segen erheben wir uns.
Der Herr segne dich und behüte dich.
Er schaffe dir Rat und Schutz in allen Ängsten.
Er gebe dir den Mut, aufzubrechen und die Kraft, neue Wege zu gehen.
Er schenke dir Gewissheit, heimzukommen.
Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über Dir und sei dir gnädig.
Gott sei Licht auf deinem Wege.
Er sei bei Dir, wenn du Umwege und Irrwege gehst.
Er nehme dich bei der Hand und gebe dir viele Zeichen seiner Nähe.
Er erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir seinen Frieden und das Bewusstsein der Geborgenheit. Amen.