Diese Predigt habe ich bisher erst einmal gehalten, das war zu einem Predigerseminar:
Das Jahr hat 365 Tage – in einem Schaltjahr haben wir sogar einen Tag mehr zur Verfügung…
Ein Jahr besteht aus dem Wechsel von vier Jahreszeiten – nach den kalten Tagen wird es wärmer, die Tage werden länger, und gegen Ende des Jahres zu werden die Tage wieder kürzer und grauer, voller Nebel, die Nächte werden länger, die sogenannte dunkle Jahreszeit beginnt…
Selbst bei einem Tagesablauf können wir beobachten, wie aus der Dunkelheit die Helligkeit herauswächst bis zum Sonnenhöchststand, also bis die Sonne im Zenit steht, und wie mit sinkender Sonneneinstrahlung die Dunkelheit wieder von uns Besitz ergreift…bis die Nacht uns wieder voll im Griff hat.
Gegen die Lichtlosigkeit um uns herum können wir etwas tun – wir lassen das Licht brennen, Gott sei Dank haben wir ja den elektrischen Strom, und genau in der lichtlosesten Zeit lassen wir uns die Gelegenheiten nicht entgehen, eine Kerze nach der anderen anzuzünden.
Aber was ist mit der inneren Dunkelheit? Für viele ist der Beginn der dunklen Jahreszeit ein Anlass, sorgenvoll, ja sogar ängstlich nach vorn zu blicken und sich Gedanken zu machen, was der nächste Tag wohl bringen mag. Depressionen sind im Winter häufiger anzutreffen als im Sommer.
Und ein Kind fürchtet sich in der Regel auch vor der Dunkelheit – abends, wenn die Geister unter dem Bett hervorkommen oder sich im Schrank versteckt halten und jedes Geräusch einem Angst einjagen will…wer kennt das nicht, da hilft ein kleines Nachtlicht oder die Türe einen Spalt offen lassen, und schon sieht die Welt wieder ein klein wenig heller und nicht so furchteinflößend aus.
Das wundervolle Buch, das sich Bibel nennt, hat gegen die Angst, die uns manchmal befallen will, gegen die Angst vor Morgen eine großartige Waffe – 365mal soll darin die Aufforderung stehen „Fürchte dich nicht“, „Fürchtet euch nicht“, „Habt keine Angst“ oder wie man es auch ausdrücken will.
365mal – für jeden einzelnen Tag des Jahres ein neues Angebot, eine neue Hilfe, eine neue Zusage. Einen der schönsten Verse unter diesen vielen Versen habe ich als meinen Predigttext herausgesucht.
Ich lese Jesaja 43, 1:
Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Amen
Dieser Vers wird zu vielen Gelegenheiten als Grußwort verwendet – als Taufspruch, zu Hochzeiten, zu Beerdigungen, als Konfirmations- bzw. Einsegnungsspruch (ich kenne mindestens zwei Leute, die diesen Spruch zu ihrer Einsegnung bekommen haben) – und er war auch damals zu Jesajas Zeiten an das Volk Israel gerichtet, um es aufzurichten, als Licht in der Dunkelheit war er gedacht und wurde er überbracht.
Wahrhaft dunkle Zeiten waren für das Volk Israel angebrochen. Das Volk Israel war in Gefangenschaft – schon mehrere Generationen lang. Babylonien war die Zwangsheimat der Israeliten geworden. Das Heimweh in der Fremde blieb von Generation zu Generation stark, aber die Realität erstickte je länger je mehr die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr. Da gab es viele, die einfach nicht mehr weiter machen und aufgeben wollten.
Die allgemeine Stimmung war himmeltraurig: „Jetzt können wir nicht mehr!“ Kennt ihr das auch? „Wir sind jetzt einfach nur noch müde, wir wollen nur noch unsere Ruhe, mehr nicht!“ – „Es hat doch alles keinen Sinn mehr, wir geben auf!“ Diese Sätze kennen wir doch, diese fatale Resignation, wenn wir in einer Sackgasse fest sitzen! Ja, wenn alle Lebensenergie verschwunden ist und wir geradezu „verschmachten“, wenn wir keinen Sinn und keine Perspektive mehr sehen – dann wird‘s gefährlich!
Damals drückte noch ein weiterer Faktor auf die Stimmung der Deportierten: Die „Schuld“ ihrer Vorfahren! Denn alle wussten es noch ganz genau: Ein ausschweifender Lebensstil, ausgelassene Götzenfeste, soziale Lieblosigkeit und korrupte Ungerechtigkeit hatten die Volksgemeinschaft so geschwächt, dass kam, was kommen musste: Trotz der Warnungen einiger Propheten verkalkulierte sich die damalige marode Führung politisch derart, dass sie die Eroberung ihres Landes durch die Babylonier geradezu naiv provozierte. Getreu nach dem Motto „Wer nicht hören will, muss fühlen“.
Drei Generationen später schmerzten diese Wunden und die Trauer über das schuldhafte Versagen immer noch. Man hörte Klagegeschrei und bitteres Weinen, die Leute wollten sich nicht trösten lassen, die Augen waren voller Tränen. Die Menschen waren müde geworden durch die Mühen und Lasten in der Verbannung!
Doch nun tritt ein Prophet auf, der seine Aussagen mit den Worten beginnt: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht der Herr!“ Das Trostbuch von der Erlösung Israels, das mit dem 40. Kapitel im Jesajabuch beginnt.…
Gott hat sein Volk nicht vergessen, wie manche vielleicht meinten. Er betrachtet es immer noch als „sein Volk“! In aller äußeren und inneren Not tritt hier ein Mensch vor das Volk und verkündet: Fürchte dich nicht!
Was für eine Aussage!
Wir fürchten uns vor so vielem, vor Menschen, Tieren, Krankheiten, Arbeitslosigkeit, Schmerzen, Dunkelheit…die Liste ließe sich noch um so etliches ergänzen.
Furcht ist etwas, das uns lähmen kann. Furcht kann uns daran hindern, das Richtige zu tun, etwas, das eigentlich „dran ist“ und wert getan zu werden. Furcht – hier hatte ich mich beim Ausarbeiten meiner Predigt verschrieben und „Frucht“ geschrieben…nur ein einziger Buchstabe anders gesetzt, und die Bedeutung ändert sich gravierend!
Furcht treibt auch Früchte – keine guten Früchte, wie ich finde. Angst, Depressionen, Kleinglauben, das alles kann mit der Furcht Hand in Hand gehen. Und Furcht kann ausgenutzt werden von demjenigen, der dies auszunutzen versteht. So manche Schreckensherrschaft ist schon aufgebaut worden auf den Pfeilern der Furcht.
Doch hier setzt ein Mann drei Worte dagegen. Die berühmten drei Worte. Nein, ich komme jetzt nicht mit dem Lied, das ein Schlagersänger vor Jahren brachte „Die berühmten drei Worte „Ich liebe dich“. Das meinte ich jetzt nicht.
Hier kommt ein deutliches „Fürchte dich nicht!“ Und es folgt auch gleich die Erklärung, das „warum?“ „Ich habe dich erlöst!“
Beachtet bitte die Wortwahl, die Zeitform! Nicht „Ich werde dich erlösen“ – NEIN – „Ich HABE dich erlöst!“ Ungefähr 550 Jahre, bevor Christus am Kreuz das Erlösungswerk vollbrachte, kommen hier die Worte „Ich habe dich erlöst“ — für Gott ist das Erlösungswerk bereits geschehen, bei ihm läuft die Zeit anders als für uns – für Gott sind auch 1000 Jahre wie ein Tag!
Manche im Volk Israel hatten es schon früher erfahren und verstanden, steht doch im Psalm 111, 9 die Aussage: „Er hat sein Volk erlöst!“ Das alttestamentliche Gottesvolk dachte bei diesen Worten zuerst und vor allen Dingen an die Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft. Aus eigener Kraft hätten sie sich niemals befreien können – die Macht der Ägypter war einfach zu groß. Aber Gott ist noch größer und noch mächtiger. Und so hat er sein Volk aus der Hand der Ägypter befreit und ihnen einen Neuanfang ermöglicht.
Und genauso hat er den Israeliten die Zusage gemacht, sie aus der babylonischen Gefangenschaft zu befreien.
„Ich habe dich erlöst“ – dieser Satz gilt für uns als das neutestamentliche Gottesvolk ebenfalls in des Wortes vollster Bedeutung. Aber für uns heute ist es nicht der Auszug aus Ägypten oder die Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft, die waren für das alttestamentliche Volk das Heilsereignis schlechthin.
Für uns ist es das Kreuz, an dem Jesus starb. Hier sind wir erlöst, befreit worden – und zwar von der Macht der Sünde. Hier hat Gott uns einen Neuanfang ermöglicht. Hier hat er etwas gegen unsere Furcht gestellt, etwas, das durch nichts und niemanden zu besiegen ist.
Weiter geht es im Text mit den Worten: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen.“
Jeder von uns hat seinen Namen, der ihn unverwechselbar macht. Einen Namen, der den anderen, das Gegenüber, befähigt, ihn mit „Du“ anzusprechen und ihn von anderen zu unterscheiden.
Schon von Anbeginn der Zeiten rief Gott nach dem Menschen. Und die Menschen? Viele haben geantwortet. Auf ganz unterschiedliche Art und Weise.
Adam, wo bist du? So rief Gott nach dem Menschen im Garten Eden. Ein liebevoller Ruf nach dem, den er geschaffen hatte und der sich aus Furcht vor Strafe versuchte zu verstecken..
Samuel, dreimal rief Gott diesen Namen, und beim dritten Mal gab Samuel die richtige Antwort: „Rede, Herr, dein Knecht hört.“
„Du bist Petrus, der Fels. Auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen.“ So sagte Jesus zu Simon. Und was war Simon für ein furchtsamer Geselle – denken wir doch nur an die Szene im Hof, während Jesus verhört wurde und Petrus Stein und Bein schwor, dass er nie von diesem Jesus gehört hatte.
„Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“ Diese Frage richtete Jesus an den fanatischen Christenverfolger Saulus, den Saulus, der sich später Paulus nannte.
Der erste Ruf Gottes ging an Adam – Adam, das heißt Mensch. Und genauso geht der Ruf Gottes auch an uns, an alle Menschen. Die Frage ist nur, wie wir antworten.
Der Vers schließt mit den Worten „Du bist mein“.
In der Schöpfungsgeschichte wird beschrieben, wie Gott alle Tiere zum Menschen, zu Adam, brachte, und dieser gab einem jeden seinen Namen. Damit wurden sie Eigentum des Menschen. Und er hat die Verantwortung für die Tiere übernommen.
Christen – das heißt Gesalbte – nennen wir uns alle nach Christus. Und damit gehören wir ihm. Und er übernimmt die Verantwortung für uns. Doch hier ist kein Automatismus am Werk – jetzt heißt es nicht „Wir können tun und lassen, was wir wollen, wir sind ja Christen!“ – Es heißt auch nicht „Einmal Christ, immer Christ“! nein, so ist es bei weitem nicht.
Wir müssen antworten auf seinen Ruf. Immer wieder. Vielleicht so antworten wie Samuel „Rede, Herr, dein Knecht hört!“ Oder auch nur wie Saulus zurückfragen „Herr, wer bist du?“ Wenn wir dann hören können, wie ein Jünger hört, dann dürfen wir gespannt auf das sein, was wir zu hören bekommen.
Wie wird unsere Antwort auf den Ruf Gottes lauten?
Ich habe ein Lied von Siegfried Fietz gefunden:
Ich bin erlöst, die Liebe macht mich frei.
Aus urheberrechtlichen Gründen habe ich den Text des Liedes entfernt.
Gebe uns Gott, dass dies unsere Antwort ist. Wenn unsere Antwort so ausfällt, dann brauchen wir auch keine Angst vor der dunklen Tageszeit oder der dunklen Jahreszeit zu haben, dann haben wir ein Licht, das uns hindurchführt, ein Licht, das uns den Weg hin zum Ziel zeigt.
Gott begegnet uns als der barmherzige Vater, so wie wir ihn durch Jesu Geschichte von den verlorenen Söhnen kennen! Er lässt uns zwar die Freiheit, krumme Wege zu gehen. Und er lässt uns auch die oft schmerzhaften Konsequenzen unserer Sünden tragen. Aber wenn wir damit nicht mehr fertig werden und kaum noch die Energie aufbringen, die Last unserer Schuld und Irrwege zu tragen – dann dürfen wir das getrost vor Gott bringen und uns „ausklagen“!
Wir brauchen diesem Licht, das er uns gibt, nur zu folgen. Und von dem Ziel werden wir alle überrascht sein, denn es wird viel mehr und viel größer sein, als wir es uns jemals ausdenken können. Dann wird dieses Wort „Du bist mein“ für uns eine Wohlfühloase darstellen, wie eine warme Decke wird es uns schützen vor Kälte und auch vor Dunkelheit. „Du bist mein“ – dieses Wort ist unser Schutzschild.
Davon bin ich überzeugt.
Amen.