Sei nett

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Es war einmal eine sehr liebevolle junge Frau, von der sanftmütigen Art, die die Obdachlosen bei sich übernachten lässt, den Hungrigen Essen bringt und für die Alten sorgt. Sie und ihr Mann wünschten sich mehr als alles andere auf der Welt ein Baby. Und als die Frau merkte, dass sie endlich schwanger war, war sie glücklich und ängstlich zugleich. Glücklich, weil sie sich schon so lange ein Kind gewünscht hatte, und ängstlich, dass ihr Kind nicht … nett werden würde.

So ging sie, die weise alte Frau aufzusuchen, die so hieß es, tief in den Wäldern wohnte. Und als die in die Hütte der alten Frau kam, sorgte sie drei Tage und drei Nächte für diese – sie hackte Holz für den kommenden Winter, fing Wassermolche für Eintopfgerichte, pflückte Schierling für heilende Tränke, kochte Mahlzeiten, schrubbte Fußböden, wusch Wände ab, wechselte das Bettzeug, rieb der alten Frau die schmerzenden Fußballen, massierte ihre knorrigen Hände, bürstete Knoten und Zweige und Nesseln aus ihrem Haar. Und nach drei Tagen fragte die alte Frau – die nicht undankbar war – schließlich: „Was möchtest du?“
„Ich möchte“, sagte die Frau, „dass mein Kind … nett wird.“
„Nett?“
„Ja … nett.“
„Und wie wäre es mit reich, intelligent, talentiert, berühmt?“
„All das ist richtig und gut“, antwortete die Frau, „aber ich habe so viele grausame und unhöfliche und gemeine Menschen auf dieser Welt gesehen, und ich fürchte, mein Kind könnte genauso werden.“
„Das solltest du auch“, sagte die alte Frau, „das solltest du auch.“ Und mit diesen Worten kletterte sie die wacklige Leiter zum obersten Regal hinauf, wo sie ihre stärksten Tränke und Lotionen und Visionen aufbewahrte. Und sie holte ein großes Glas herunter, das glänzte wie der Mond in einer Sommernacht und mit einer dicken, beißenden Creme gefüllt war. „Hier, nimm dies mit nach Hause und reib dir jeden Abend ein kleines bisschen davon auf den Bauch. Und während du reibst, sag: ,Sei nett. Seii nett.’ “
Und das tat die junge Frau dann auch.
Sieben Monate. Seii nett. Acht Monate. Seii nett. Neun Monate. Seii nett. Seii nett.

Zehn Monate

Seii nett. Seii nett.
Elf.

Seii nett. Seii nett.
Ein Jahr verstrich, zwei, drei. Seii nett.
Fünf Jahre, zehn, zwanzig. Seii nett. Seii nett.
Bis die Frau schließlich – sie war mittlerweile neunundneunzig Jahre und neunundneunzig Tage alt – starb. Und als der Arzt sie aufschnitt, um zu sehen, was in all diesen langen Jahren vor sich gegangen war, entdeckte er in ihrem Bauch nur zwei verschrumpelte alte Männer.
„Nach Ihnen“, sagte der eine.
„Nein, nach Ihnen“, sagte der andere.
„Nein, bitte, Sie zuerst.“
„Wirklich, Sie als erster.“

Höflichkeit ist eine Zier, doch ohne kommt man weiter hier.

Ist das nicht eher das Motto unserer Zeit? Bitte, Danke, mal im Bus oder in der Bahn vor einem älteren aufstehen, Platz anbieten, den anderen ausreden lassen, den Tonfall zügeln – all das ist doch nicht mehr zeitgemäß!!!!!!!!!!

Auf der anderen Seite erwarten wir aber doch genau das von den anderen, oder nicht? Im Umgang mit Menschen lernen wir doch eigentlich, dass jeder den anderen so behandeln soll, wie er von ihm behandelt werden will.

Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu! Steht schon in der Bibel, bei Tobias 4,16.

Wollen wir doch einfach mal damit anfangen, ich habe mir sagen lassen, das soll ansteckend sein.

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