Diese Predigt habe ich am 22.03.2015 in meiner Heimatgemeinde gehalten
Markus 15,1-15
1 Und alsbald am Morgen hielten die Hohenpriester Rat mit den Ältesten und Schriftgelehrten und dem ganzen Hohen Rat, und sie banden Jesus, führten ihn ab und überantworteten ihn Pilatus.
2 Und Pilatus fragte ihn: Bist du der König der Juden? Er aber antwortete und sprach zu ihm: Du sagst es.
3 Und die Hohenpriester beschuldigten ihn hart.
4 Pilatus aber fragte ihn abermals: Antwortest du nichts? Siehe, wie hart sie dich verklagen!
5 Jesus aber antwortete nichts mehr, sodass sich Pilatus verwunderte.
6 Er pflegte ihnen aber zum Fest einen Gefangenen loszugeben, welchen sie erbaten.
7 Es war aber einer, genannt Barabbas, gefangen mit den Aufrührern, die beim Aufruhr einen Mord begangen hatten.
8 Und das Volk ging hinauf und bat, dass er tue, wie er zu tun pflegte.
9 Pilatus aber antwortete ihnen: Wollt ihr, dass ich euch den König der Juden losgebe?
10 Denn er erkannte, dass ihn die Hohenpriester aus Neid überantwortet hatten.
11 Aber die Hohenpriester reizten das Volk auf, dass er ihnen viel lieber den Barabbas losgebe.
12 Pilatus aber fing wiederum an und sprach zu ihnen: Was wollt ihr denn, dass ich tue mit dem, den ihr den König der Juden nennt?
13 Sie schrien abermals: Kreuzige ihn!
14 Pilatus aber sprach zu ihnen: Was hat er denn Böses getan? Aber sie schrien noch viel mehr: Kreuzige ihn!
15 Pilatus aber wollte dem Volk zu Willen sein und gab ihnen Barabbas los und ließ Jesus geißeln und überantwortete ihn, dass er gekreuzigt werde. Amen.
Drei Hauptpersonen sind in diesem Stück – und viele Nebenrollen und Statisten…
Beginnen wir mit den drei namentlich genannten…
Da gibt es als erstes einen gewissen Pontius Pilatus.
Unter den Römern, die in der Bibel genannt werden und damit die Heilsbotschaft mit der weltlichen Geschichte verbinden, ragen zwei heraus. Mit dem Kaiser Augustus beginnt die Weihnachtserzählung des Evangelisten Lukas. Und Pontius Pilatus eröffnet Jesu Todesweg. Welche Bedeutung dem römischen Statthalter Judäas beikommt, macht unser apostolisches Glaubensbekenntnis deutlich, in dem es heißt: “ … gelitten unter Pontius Pilatus“.
Pontius Pilatus, der fünfte Statthalter auf diesem Posten in Palästina, vermutlich aus dem Samnitenland stammend, hat höchstwahrscheinlich eine militärische Karriere durchlaufen. Seine Amtszeit dauert von 26 bis 36.
Wie Judas erscheint auch Pontius Pilatus als Werkzeug Gottes. Ohne den Römer gäbe es keinen Heilsplan.
Pilatus wird als „ein Mann von unbeugsamer Haltung, hart und starrköpfig“, beschrieben. Von ihm wird berichtet, dass er beispielsweise den Tempel plündert, um den Bau eines Aquäduktes zu finanzieren.
Einige Galiläer, die in den Tempel kommen um zu opfern, lässt er töten und ihr Blut mit dem der Opfertiere vermischen. In seinem Auftrag werden Anhänger eines Samariters niedergemetzelt, der offenbar behauptete, ein Prophet zu sein – ein Zwischenfall, der schließlich dazu führt, dass Pilatus von seinem Posten als Statthalter abgezogen wird.
Pilatus ist also offensichtlich ein Mann, der nicht zögert und keinerlei Skrupel hat, Juden umzubringen. Aber als ihm dann Jesus vorgeführt wird – ein Mann, der von sich behauptet, König der Juden zu sein –, da kann sich Pilatus allem Anschein nach nicht dazu durchringen, die Hinrichtung dieses Mannes anzuordnen.
Pilatus ist beunruhigt durch diesen Mann; das ist in jedem der Evangelien zu erkennen. Pilatus weiß aber offenbar auch, dass der eigentliche Grund, weshalb ihn die jüdischen Priester loswerden wollen, Neid ist. Und vielleicht auch eine gehörige Portion Angst.
Pontius Pilatus ist als Statthalter die gerichtliche Obrigkeit. Die Juden dürfen keine Gerichtsurteile fällen, deshalb müssen sie ihren Fall vor Pilatus – den Vertreter der römischen Besatzungsmacht – bringen.
Doch Pontius Pilatus ist kein leichter Fall…er sträubt sich…bei Lukas wird berichtet, dass er ihn zu Herodes schickt, weil Jesus aus Galiläa stammt und deshalb Untertan des Herodes ist. Doch auch bei Herodes wird keine Entscheidung gefällt, sondern dieser lässt Jesus zurück zu Pilatus bringen.
Daher kommt das Sprichwort „von Pontius zu Pilatus laufen“ oder auch „jemanden von Pontius zu Pilatus schicken“. Es ist ein Synonym für gegangene Umwege oder sinnlose Wege. In der Wendung wird allerdings Herodes ausgelassen und damit der Eindruck erweckt, als ob es sich bei Pontius Pilatus um zwei verschiedene Personen handelte.
In der Überlieferung fragt Pilatus Jesus außerdem „Was ist Wahrheit?“ – doch er erwartet gar keine Antwort.
Pilatus ist die Anklage der Gotteslästerung mit Sicherheit gleichgültig, aber der Anspruch des Gefangenen, der Messias zu sein und damit die Königswürde zu besitzen, das muss ihm als Rebellion, als Unruhestiftung, aufstoßen.
Und trotzdem – Pilatus möchte gern diesen Gefangenen freilassen, da er merkt, dass es sich um ein Komplott handelt. Mehrmals betont er, dass er keine Schuld an diesem Menschen findet. Mehrmals bietet er dem Volk die Freilassung an. Doch er unterliegt am Ende dem Gruppenzwang.
Matthäus berichtet, dass Pilatus sich danach die Hände wäscht und zur Menge sagt: „Ich bin am Blut dieses Menschen nicht schuldig. Die Verantwortung dafür tragt ihr!“
Trotz aller Grausamkeit, die er an anderer Stelle an den Tag legt – hier lehnt er die Verantwortung ab und schiebt die Schuld dem Volk und den Priestern und Ältesten zu.
Und hier kommt die zweite Hauptperson ins Spiel – Jesus Barabbas…
Der Name Jesus Barabbas wird nicht von allen Evangelisten genannt, sondern nur von Matthäus.
Interessant ist, was der Name Jesus Barabbas bedeutet: Der Name »Barabbas« bedeutet »Sohn des Vaters«, und der Name »Jesus« bedeutet »Retter«; Matthäus macht also deutlich, dass die Menge die Wahl hat zwischen zwei messianischen Gestalten.
Doch dieser Barabbas wird als Räuber, als berüchtigter Gefangener, ja sogar als Mörder beschrieben.
Aber die Juden, angeführt und aufgestachelt von den Priestern und Ältesten, fordern anstelle des Herrn Jesus die Freilassung dieses Mannes. Warum ausgerechnet diesen Mann, ist nicht bekannt.
Doch auf die entschiedenste Art und Weise wird ihre Ignoranz offenbar, indem sie einem offenkundig bösen Menschen den Vorzug vor dem Messias, dem Herrn des Lebens und der Herrlichkeit, geben. Und die Priester und Ältesten wissen es eigentlich besser, sie müssten es besser wissen, sind sie doch diejenigen, die sich in den alten Schriften auskennen.
Das wird einige Zeit später durch Petrus in seiner Rede öffentlich dem jüdischen Volk angelastet werden. „Ihr aber habt den Gerechten verleugnet und gebeten, dass euch ein Mann, der ein Mörder war, geschenkt würde“. So sagt er in seiner Pfingstpredigt.
Beide – Jesus und Barabbas – sind angeklagt, Aufruhr angezettelt zu haben und Anspruch auf den Titel „König der Juden“ zu erheben. Doch einer kommt frei.
Barabbas, der Räuber. Ein Mörder, der anstelle des Messias freikommt. Barabbas wird somit der erste Sünder, für den Jesus stirbt.
Unglaublich eigentlich, vielleicht dadurch zu erklären, dass Jesus einfach sterben muss, um die Prophezeiungen erfüllen zu können und den neuen Bund Gottes mit den Menschen beginnen zu lassen. Und Barabbas ist da, als es darum geht, Jesus freizulassen, oder eben ihn, den Mörder und Räuber.
Und Jesus? Von ihm wird berichtet, dass er zu den Vorwürfen schweigt, nur ganz wenige Worte spricht er zu Pilatus. Die Frage stellt sich jetzt: Warum schweigt Jesus?
Jesus hat gar nicht vor, sich zu verteidigen. Er versucht nicht, die Todesstrafe abzuwenden. Jesus ist in Erwartung seiner Hinrichtung nach Jerusalem gekommen, und er weiß, dass das zu Gottes Plan für ihn gehört.
Er weiß, was passieren wird. In Gethsemane hat er gebetet: „Abba, mein Vater … nimm diesen Kelch von mir; doch nicht, was ich will, sondern was du willst.“ Er akzeptiert sein Schicksal und schweigt dann.
Vielleicht denkt Jesus an Jesaja 53, an den Abschnitt über den „leidenden Gottesknecht“, als er vor dem Hohen Rat und vor Pilatus steht. Diese Worte wurden Hunderte von Jahren vor der Zeit Jesu geschrieben und sprechen von einem Einzelnen, der für die Sünden des Volkes Israels leiden wird.
Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.
So steht da.
Und Jesus hat die Schrift erfüllt bis ins kleinste Detail.
Schon beim Einzug in Jerusalem reitet er auf einem Esel, um auf seine Rolle als Messias hinzuweisen, denn er weiß, dass in Sacharja 9,9 davon die Rede ist, dass ein König so in Jerusalem einziehen wird.
Und bei den Verhören und vor Gericht soll sein Schweigen seine Anhänger an die Worte aus Jesaja 53 erinnern und ihnen so einen Hinweis auf sein Leiden und Sterben geben: Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird.
Jesus steht allein – allein gegen eine ganze Horde wildgewordener Juden, allein gegen die jüdische Obrigkeit, allein gegenüber Pilatus, allein neben Barabbas.
Und er schweigt.
Und jetzt fragen wir uns einfach mal: Wo wäre ich gewesen? Zu Hause, weil ich mich raushalten will aus dem ganzen Theater? Mittendrin – um alles live zu erleben? Abseits stehend als unbeteiligter Beobachter oder unbeteiligte Beobachterin?
Und wer sind die, die da so schreien? Mitläufer, die überall da hingehen, wo etwas los ist? Enttäuschte Juden, die sich vorgestellt hatten, Jesus würde seine Königsherrschaft ausrufen? Die Geldwechsler und Händler, die Jesus wenige Tage zuvor aus dem Tempel vertrieben hat und die wütend auf ihn sind, weil er ihr Geschäft geschädigt hat? Chaoten, heute würden wir sagen Hooligans, die einfach nur auf Krawall aus sind?
Die Menschen sind beeinflussbar – in beide Richtungen, zum Guten und zum Bösen, und hier haben wir ein Beispiel, wie die Masse zum Bösen beeinflusst wird.
„Ecce homo – welch ein Mensch“ So soll Pilatus gesagt haben, als Jesus bereits gefoltert worden ist und wieder vor ihm steht.
Doch ein ganz gewöhnlicher Mensch kann nicht für die Sünden der ganzen Menschheit sterben; aber weil Jesus Mensch gewordener Gott ist, kann er das.
Als Jesus nach Jerusalem kommt, erwarten viele einen Messias, der einen bewaffneten Aufstand gegen die Römer anführen wird; und er enttäuscht sie bitter. Jesus ist der einzige Messias, der sich weigert, ein Schwert in die Hand zu nehmen. Er lehrt die Menschen, ihre Feinde zu lieben und für diejenigen zu beten, von denen sie verfolgt werden.
Und das ist nun wirklich nicht das, wonach die Menschen auf der Suche sind und worauf sie schon so lange gewartet haben. Hier ist ein Messias, der so ziemlich in allem dem widerspricht, wovon sie überzeugt sind und woran sie glauben. Sie sehen ihre einzige Chance zur Befreiung und zum Überleben darin, Gewalt anzuwenden.
Die Geschichte von einem Gott, der Mensch wird, um die Menschen aufzurufen, einander zu lieben, und der bereit ist, für sie zu leiden, ist eine viel machtvollere Geschichte, als jede Geschichte, die in der griechisch-römischen Götterwelt zu finden ist. Das römische Reich wird letztlich nicht durch das Schwert besiegt, sondern durch das Kreuz Jesu Christi.
Doch an diesem Tag gibt es noch niemanden, der das alles versteht.
An diesem Tag ist erst einmal die Gewalt an der Reihe – Gewalt gegen den Gewaltlosen. Die Menschen wollen lieber den Weg physischer Stärke, militärischer Macht und niedrigerer Steuern als den Weg des Friedens durch opferbereite Liebe.
Doch die Masse kann nicht nur beeinflusst werden, sondern sie kann auch zum Guten oder zum Bösen beeinflussen.
Wenn wir an jenem Tag dort in der Menge gestanden hätten, für wen hätten wir uns entschieden? Hätten wir vielleicht auch geschrien „Kreuzige ihn!“? Wer kann das so genau sagen? Wir haben einen Vorteil gegenüber den Menschen damals – wir wissen aus unserer heutigen Sicht, dass es alles so kommen musste, wie es gekommen ist.
Beim letzten Abendmahl hat Jesus gesagt: „Nehmt und esst! Das ist mein Leib“. Und dann: „Das ist mein Blut, mit dem der neue Bund zwischen Gott und den Menschen besiegelt wird. Es wird zur Vergebung ihrer Sünden vergossen“. Er versteht, dass sein Tod uns die Erlösung bringen wird.
Nehmen wir die Erlösung an?
In seinem Buch „Umfrage wegen eines Pastors“ beschreibt Dietrich Mendt einen Traum, den Traum vom Leiden im Himmel:
Ich träumte, ich sei im Himmel.
Der Himmel war der Himmel meiner Kindheit, ausgestattet mit meinen erwachsenen Bedürfnissen.
Einzelzimmer mit modernen Betten und Sesseln, Aufenthaltsräume mit Wiedergaben abstrakter Kunst, alle Bücher griffbereit, die ich liebe, und alles voller Musik. Ich selber konnte spielen, was ich mir immer gewünscht hatte, Klavier vom Blatt, Reger, Brahms und Hindemith, Mozart und Bach, immer wieder Bach, und Orgel spielte ich auch und Oboe und Klarinette.
Meine Frau war da und die Kinder und lauter Freude und nichts, was langweilt, und viele Freunde.
Teppiche dämpften den Schritt und machten die Freude festlich.
Keiner blickte traurig, keiner hatte ein gleichgültiges Gesicht, und keiner schlief.
„Wo ist Christus?“ fragte ich.
„Ich will Christus sehen, das hab ich mir immer gewünscht“, sagte ich. „Wo ist Christus? Wie lohnt sonst der Himmel?“
Doch Christus war nirgends.
Ich suchte ihn, und ich lief durch Gänge, über Treppen, in Keller, auf Türme, und alles war festlich und voller Freude und Glück, aber Christus war nicht da.
Ich suchte und suchte und fand einen, der sah aus wie Gott in der Bibel Cranachs mit Rauschebart und würdig und ernst und mit gütigen Augen.
Es konnte Gott sein, es war vielleicht Gott, aber ich dachte nicht an ihn, mich interessierte Gott nicht, nur Christus.
„Wo ist Christus?“ fragte ich ihn.
„Warum zeigt er sich nicht? Ich will ihn sehen. Das ist der Wunsch meines Lebens.“
Sein Blick wurde ernst, und seine Stirn furchte sich, und er legte die Hände auf meine Schultern.
„Christus hängt am Kreuz.“
„Christus ist auferstanden“, sagte ich, „er lebt! Er starb und wurde wieder lebendig.“
„Christus leidet am Kreuz in Ewigkeit. Er lebt, um zu leiden, für dich“, sagte der Mann, und ich glaubte ihm.
„Kann ich ihn sehen?“ so fragte ich. „Kann ich ihm helfen?“
„Keiner kann helfen, keiner ihn sehen. Ihr würdet nicht leben können ohne sein Leiden.“
„Woran leidet er?“ fragte ich ihn.
„Am Hass, an Vietnam, an der Unterdrückung der Schwarzen, an Gewalt, an Hunger und auch an dir!“
Jesus für uns leiden zu sehen, soll den Wunsch in uns wecken, nie wieder zu sündigen.
Doch genau wie Barabbas werden auch wir verschont, weil Jesus die Strafe auf sich genommen hat, die eigentlich wir verdient hätten.
Amen.