Deine Hand hat mich gemacht und bereitet; unterweise mich, dass ich deine Gebote lerne.
Psalm 119,73
Heute habe ich nicht meine eigenen Gedanken hier niedergeschrieben, sondern einen weit Größeren zu Wort kommen lassen – Charles Haddon Spurgeon (1834-1892). Er war ein unglaublich begnadeter Prediger seiner Zeit. Was er zu dem Vers aus Psalm 119,73 zu sagen hatte, könnt ihr hier nachlesen. Entschuldigt die etwas altertümlich anmutende Sprache. Die Betrachtungen zum gesamten Psalm 119 verlinke ich hier.
Es kann uns sehr nützlich sein, jeweils an unsere Erschaffung zu denken; ist es doch so erfreulich, zu betrachten, wieviel Gottes Hände sich um uns gemüht haben, denn Gottes Hand rührt sich nie unabhängig von Gottes Gedanken. Es erweckt in uns Ehrfurcht, Dankbarkeit und Liebe gegen Gott, wenn wir uns ihn als unseren Schöpfer vor Augen halten, der alle Sorgfalt, Geschicklichkeit und Macht seiner Hände entfaltete, als er uns schuf und bildete.
Er hat sich ganz persönlich um uns bekümmert, denn mit seinen Händen hat er uns gemacht. In zwiefacher Beziehung verdanken wir ihm alles, indem er sowohl den Stoff schuf als auch unsern Leib formte, uns ins Dasein rief und diesem Dasein seine ganze Ordnung und Einrichtung gab. In beidem offenbarte er seine Liebe und Weisheit; unser Sein und unser Wohlsein, dass wir überhaupt leben und dass wir so leben, wie uns beschieden ist, beides ist für uns Ursache zu freudigem Dank, festem Vertrauen und froher Erwartung.
Unterweise mich (gib mir Einsicht, mache mich verständig), dass ich deine Gebote lerne. Da du mich gemacht hast, so lehre mich nun auch. Hier ist das Gefäß, das du selber geformt hast; HERR, nun fülle es. Du hast mir so Seele wie Leib gegeben; gewähre mir nun auch deine Gnade, damit meine Seele deinen Willen erkenne und mein Leib sich mit ihr vereine als williges Werkzeug, deinen Willen zu vollbringen.
Gerade mit dieser Begründung ist die Bitte von großer Kraft; wie könnte er das Werk seiner Hände fahren lassen? Ohne Einsicht in das göttliche Wort, die Offenbarung seines heiligen Willens, und ohne Gehorsam gegen seine Gebote verfehlen wir unsere Bestimmung; da wären wir unvollendete, nutzlose Gefäße.
Aber eben darum dürfen wir mit gutem Grunde hoffen, dass der große Töpfer sein Werk vollenden und gleichsam die letzte Hand daran legen wird, indem er uns heilige Einsicht und heilige Handlungsweise verleiht. Wenn Gott uns nur im Rohen geschaffen, uns nicht auch ganz wunderbar kunstvoll gebildet und bereitet hätte, so würde diese Begründung lange nicht so beweiskräftig sein; aber eben aus der so überaus feinen, vollendeten Kunst, mit der der HERR den Leib des Menschen gebildet, dürfen wir den sicheren Schluss ziehen, dass er auch ganz bereit ist, die gleiche Mühe und Sorgfalt auf unsere Seele zu verwenden, bis sie völlig seinem Bilde ähnlich ist.
Ein Mensch ohne Einsicht, ohne Verstand ist ein armer Blödsinniger, das bloße Zerrbild eines Menschen; Verstand aber ohne Gnade ist vom Argen, eine traurige Verkehrung dessen, was die Vernunft eigentlich sein sollte. Deshalb beten wir, dass wir nicht ohne geistliches Verständnis, ohne gesunde Urteilskraft gelassen werden mögen. Darum hatte der Dichter schon V. 66 gefleht, und hier wiederholt er seine Bitte; denn ohne solche geistliche Einsicht ist kein wahres Erkennen und kein Halten der Gebote möglich. Narren können sündigen; aber nur wer von Gott selber gelehrt ist, kann heilig leben.
Wir reden oft von begabten Leuten; die köstlichsten Gaben aber hat der empfangen, dem Gott ein geheiligtes Verständnis verliehen hat, mit dem er des HERRN Willen erkennen und richtig beurteilen kann. Es ist wohl zu beachten, dass des Psalmisten Bitte um Unterweisung nicht auf gelehrtes Wissen oder Befriedigung der Neugier geht; er begehrt ein erleuchtetes Urteil, damit er Gottes Gebote lerne und also gehorsam und heilig werde. Dies ist das beste Wissen.
Auf der hohen Schule, wo diese Wissenschaft gelehrt und gelernt wird, mag einer bis ins Alter bleiben und dennoch nach immer mehr Fähigkeit zum Lernen verlangen. Gottes Wille, im Worte geoffenbart, ist ungemein hoch, tief und weit, und gewährt daher auch dem starken, gereiften Geiste Raum genug zu unausgesetzter Beschäftigung.
In der Tat hat kein Mensch von Natur einen Verstand, der fähig wäre, ein so weites Gebiet zu umfassen; darum die Bitte: Gib mir Verständnis. Darin liegt: Andere Dinge vermag ich wohl mit dem Verstande, den ich besitze, zu erfassen; dein Gesetz aber ist so rein, so vollkommen, so geistig und erhaben, dass mein geistiges Fassungsvermögen durchaus erst erweitert werden muss, ehe ich es darin zu etwas bringen kann.
Und er wendet sich an seinen Schöpfer, dass der dies in ihm wirke; er fühlt, dass keine geringere Kraft als die, welche ihn geschaffen, ihm diese Weisheit, die zur Heiligkeit führt, zu verleihen vermag. Wir bedürfen einer Neuschöpfung, und wer vermöchte diese in uns zu wirken als der Schöpfer selbst? Er, der uns das Leben verliehen, muss uns auch die Gabe des Lernens schenken; er, der uns die Fähigkeit gab zu stehen, muss uns auch das Verstehen geben.
Lasst uns alle die Bitte dieses Verses zu der unsern machen, ehe wir in dem Psalm einen Schritt weiter gehen; denn wir werden uns sogar in dieser Fülle von Bitten verirren, wenn wir uns nicht hindurch beten, nicht Gott um das rechte Verständnis derselben anflehen.